„Konspirative Wohnungen“ in der Mainzer Straße

„Beim Gebäude Mainzer Str. […] handelt es sich um einen vierstöckigen Altbau, welcher gegenwärtig renoviert wird. Es ist verkehrsgünstig gelegen und befindet sich an der Ecke Mainzer Straße / Frankfurter Allee in unmittelbarer Nähe des U-Bahnhofes Samariterstraße. Die Wohnung der Kandidaten […] besteht aus vier großen Räumen, Bad und Küche. Ein Zimmer wird nicht genutzt und soll nach der Werbung zur Treffdurchführung dienen. Bei Abwesenheit der Kandidaten ist diese auch im Wohnzimmer möglich. Die Wohnung ist modern eingerichtet und hinterlässt einen sauberen Eindruck. Sie bietet alle Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße sowie störungsfreie Treffdurchführung.“[1]

Am 3. November 1981 war es soweit: Alles Wissenswerte über ein Ehepaar in der Mainzer Straße, über ihre Kinder, Freunde und Nachbarn hatten die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Hauptabteilung XIX, über Monate hinweg genau recherchiert; die beiden waren förmlich durchleuchtet worden. Das Ergebnis fiel zur Zufriedenheit aus: „Beide Personen sind geistig beweglich und haben alle Voraussetzungen, um die Bedeutung sowie Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit dem MfS zu erfassen und diese zu konspirieren.“[2]

Besonders wichtig für die geplante Aufgabe war ihre Verschwiegenheit: „Anzeichen für Schwatzhaftigkeit, Vertrauensseligkeit und Geltungsdrang liegen nicht vor.“[3] Daher stand dem „Vorschlag zur Werbung einer IMK“ vonseiten der Stasi nichts mehr im Wege. Nachdem Fragen nach der Nutzung der Wohnung „in der Zeit von 8.00 Uhr bis 19.30“, der Bereitstellung von Genussmitteln „nach entsprechender Vereinbarung“ und des monatlichen „Unkostenbeitrags“ von 30,- Mark geklärt worden waren, erhielt das MfS den Wohnungsschlüssel.

Treppenhaus eines Hauses in der Mainzer Straße in den 1980er Jahren. Foto: Landesarchiv Berlin C Rep 110-01 Nr 7080 F 30 © mit freundlicher Genehmigung

Treppenhaus eines Hauses in der Mainzer Straße in den 1980er Jahren. Foto/Quelle: Landesarchiv Berlin C Rep 110-01 Nr 7080 F 30 © mit freundlicher Genehmigung

„IMK“ meinte in der Sprache des Ministeriums für Staatssicherheit einen „Inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens“.[4] Das bedeutete die Anwerbung von einer oder mehreren Personen, die ihre private Wohnung für konspirative Treffen der MfS-Führungsoffiziere mit ihren „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM) zur Verfügung stellten. Zumeist handelte es sich dabei um zuverlässige Mitglieder der SED, die für das bereitgestellte Zimmer oder die Wohnung eine Art Miete erhielten. Die „Konspirativen Wohnungen“ wurden häufig in Häusern eingerichtet, in denen sich die Nachbarn nicht besonders gut kannten und es viel Publikumsverkehr gab.

Die Stasi stützte sich auf eine Vielzahl solcher Wohnungen, die sich in Wohnhäusern, aber auch in Büros, in Betrieben oder öffentlichen Institutionen wie z.B. Universitäten befanden. Regionale Untersuchungen ergeben eine hohe Dichte: In der DDR kamen auf 1000 Einwohner ungefähr zwei konspirative Wohnungen,[5] neuere Forschungen gehen von ca. 30.000 IM aus, die durch ihre logistische Unterstützung zur Absicherung der Konspiration dienten.[6] Die Straßenkartei des MfS verzeichnet auch für die Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain „Konspirative Wohnungen“.

Die Tatsache, dass die Staatssicherheit in einem Haus aktiv war, lässt aber keine Aussagen über jetzige oder frühere BewohnerInnen zu, über Hausbesitzer oder Verwalter. Auch kann aus den Akten nur teilweise rekonstruiert werden, ob überhaupt und wie häufig die Wohnungen für solche Treffen genutzt wurden. Die hohe Zahl der IM-Verpflichtungen war ähnlich wie in der DDR-Wirtschaft darauf ausgelegt, innerhalb eines bestimmten Zeitraums den „Plan“ zu erfüllen, wobei die Anzahl der Werbungen der entscheidende Faktor war. Vorschlag und Werbung durch das MfS sind in den Akten erfasst, nicht aber, wenn die Leute sich entzogen, möglicherweise auf längere Sicht nicht mehr vertrauenswürdig erschienen oder andere Strategien verfolgten, um sich dieser Form der inoffiziellen Mitarbeit zu entziehen.

So auch in dem Fall eines anderes Mannes in der Mainzer Straße, dessen „IM-Vorgang“ – so heißt es in seiner Akte des MfS – aufgrund der negativen Entwicklung der persönlichen Verhältnisse „zur Ablage“ gebracht wurde. Neben seinen Verbindungen zu „Jugendlichen (Punks)“ und „keinem geregelten Arbeitsverhältnis“ war auch der Zustand seiner Wohnung in der Mainzer Straße, die „praktisch unbewohnbar“ sei, für das Ende seiner Zusammenarbeit mit der Stasi ausschlaggebend. „Die Wohnung befindet sich in einem unsauberen Zustand und ist mit einem ca. 40 cm großen Hakenkreuz an der Wand beschmiert“, stellte das MfS fest und beendete den Vorgang.[7]

Lageplan einer „Konspirativen Wohnung“ in der Mainzer Straße, gezeichnet vom MfS 1980, BStU, MfS BV Pdm AIM 1205/86, pag. 13 ©

Lageplan einer „Konspirativen Wohnung“ in der Mainzer Straße, gezeichnet vom MfS 1980. Quelle: BStU

Die Motive der Menschen, ihre Wohnung der Stasi teilweise zur Verfügung zu stellen, waren unterschiedlich. Bei den „Konspirativen Wohnungen“ lässt sich aber sagen, dass die politische Überzeugung, der Glaube an den Sozialismus und der Wille, die DDR vor den versteckten Operationen sogenannter feindlicher Mächte zu schützen, starke Beweggründe waren, die eigene Wohnung mit der Stasi zu teilen. „Karlchen“, so der Deckname, den das Ehepaar in der Mainzer Straße wählte, war seit 1948 Mitglied der SED und politisch im Wohngebiet schon lange aktiv tätig. Er verstand die Unterstützung des MfS als „politischen Auftrag“.[8]

Es gibt in der geschichtswissenschaftlichen Forschung das Desiderat, das Verhältnis von „Staatssicherheit und sozialer Praxis“[9] näher zu untersuchen, insbesondere unter alltagsgeschichtlicher Perspektive. Denn die „sozialpsychologischen Effekte“, so schreibt Jens Gieseke, „ihres Wirkens [also der Stasi, C.B.] im sozialen Nahraum von Familie und Freunden, Wohnumfeld und Arbeitsplatz sind noch nicht genügend untersucht worden“.[10] Die Staatssicherheit agierte „jenseits rechtsstaatlicher Legitimation und unter eklatanter Mißachtung der Menschen- und Bürgerrechte“.[11] Die „Konspirativen Wohnungen“ in der Mainzer Straße stehen für das Netz der Bespitzelung der eigenen Bevölkerung und die Überwachung ihres Alltags, wobei die Wohnungsinhaber Subjekt wie auch Objekt in der Interaktion mit der Staatssicherheit sein konnten.

Christine Bartlitz, April 2016

[1] Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), MfS AIM 5393/91, pag. 37.

[2] Ebd., pag. 36.

[3] Ebd., pag. 38.

[4] Siehe Helmut Müller-Enbergs, Konspirative Wohnung, in: Roger Engelmann/Bernd Florath u. a. (Hrsg.), Das MfS-Lexikon – Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, 3. Aufl., Berlin 2016, S. 207.

[5] Siehe Gesellschaft für Zeitgeschichte. Stasi in Erfurt – Konspirative Wohnungen. Forschungsprojekt Erfurt 2007, http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/stasi/konspirative-wohnungen/konspirative-wohnungen-faq/.

[6] Jens Gieseke, Die Stasi 1945-1990, München 2011, S. 115.

[7] BStU, MfS BV Bln AIM 643/89 I 1, pag. 179 und 154.

[8] BStU, MfS AIM 5393/91, pag. 43.

[9] Siehe dazu Jan Palmowski, Staatssicherheit und soziale Praxis, in: Jens Gieseke, Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 253-272; Jens Gieseke, Die Stasi 1945-1999, S. 20.

[10] Gieseke, Stasi, S. 20.

[11] Ebd., S. 19.

Quellenverzeichnis

Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)

„Straßenkartei“ des MfS F78, BStU MfS AIM 5393/91; MfS BV Bln AIM 643/89 I 1, MfS BV Pdm AIM 1205/86

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Werbung und Verpflichtung eines „IMK“ mit dem Decknamen „Karlchen“, BStU, MfS AIM 5393/91:, pag. 41-43 © BStU mit freundlicher Genehmigung

Literaturverzeichnis

Jens Gieseke, Die Stasi 1945-1990, München 2011.

Jens Gieseke (Hrsg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007.

Helmut Müller-Enbergs, Konspirative Wohnung, in: Roger Engelmann/Bernd Florath u. a. (Hrsg.), Das MfS-Lexikon – Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, 3. Aufl., Berlin 2016.

Website: Gesellschaft für Zeitgeschichte. Stasi in Erfurt – Konspirative Wohnungen. Forschungsprojekt Erfurt 2007, online unter http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/geschichte/konspirative-wohnungen/

Website: Jugendopposition in der DDR – Robert-Havemann-Gesellschaft / Bundeszentrale für politische Bildung: Interaktive Karte mit Stasi- und Oppositionsobjekten Prenzlauer Berg, Berlin, online unter http://www.jugendopposition.de/index.php?id=4731