Besetzung aus Sicht der Anwohner

Die Sicht der Gegner und Gegnerinnen: Die Bürgerinitiative

Durch die Gewalt, die auf der Straße zwischen Autonomen und Nazis ausbrach, durch laute Musik, Transparente an den Häusern und vereinzelte Sachbeschädigungen fühlten sich einige Nachbarn und Nachbarinnen der HausbesetzerInnen in der Mainzer Straße gestört. Bald bildete sich eine Bürgerinitiative, die sich im Sommer 1990 immer wieder persönlich oder in Briefen an die Verantwortlichen in der Politik wandte. Die Bürgerinnen und Bürger der Initiative wünschten eine polizeiliche Räumung. In einem Schreiben vom 12. Juni 1990 forderte die Initiative:

Mainzer Straße,1. Juni 1990. Foto: Renate Hildebrandt http://www.renate-hildebrandt.de. Quelle: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mainzer_Stra%C3%9Fe-4-Juni1990.jpg, Lizenz CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en

Mainzer Straße, 4. Juni 1990. Foto: Renate Hildebrandt. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 3.0

„die Räumung und sofortige Rekonstruktion der besetzten Häuser in der Mainzer Str. mit folgender Begründung:

1. Die Besetzung stellt einen Verstoß gegen geltendes Recht dar. […]

2. Die Argumente der Hausbesetzer, friedlich mit der Nachbarschaft wohnen und die Häuser instandsetzen zu wollen, werden nicht akzeptiert. Die angebrachten Losungen, Symbole und Fahnen belegen den provokatorischen und anarchistischen Charakter der Szene. Neben der Kampfansage gegen Rechte und Neonazis (auch hier halten wir Gewalt für ein untaugliches Mittel) werden die Mieter der Mainzer Str. als ‚Spießer‘ und ‚heterosexuelle Zwangsindividuen‘ zum Gegner erklärt. Den Besetzern und ihren unüberschaubaren Gästen geht es also nicht um Wohnen, sondern um politischen und, wie die Straßenschlachten gezeigt haben, militärischen Kampf. Zur Vorgabe des Instandsetzungswillens wird eingeschätzt, daß den Hausbesetzern die fachlichen und materiellen Voraussetzungen fehlen. […]

4. Die verärgerten und verängstigten Bürger […] befürchten eine Eskalation der Gewalt, die Verdrängung der Berliner aus dem Wohngebiet und das Entstehen weiträumiger alternativer, anarchistischer Szenen.“

Eine damalige Besetzerin entgegnete darauf, dass „die Transparente und Fahnen, die draußen hängen, […] eine bewusste Provokation [sind].“ Sie wollten allerdings nicht ihre „Mitbürger provozieren, sondern [ihre] Gegner. Und die Gegner sind eben Faschos oder der Staat.“

Wenn auch die Bürgerinitiative die Ängste vieler AnwohnerInnen laut aussprach, stellten sie und ihre Forderungen trotzdem die Minderheit in der nachbarlichen Stimmung gegenüber den Hausbesetzern und Hausbesetzerinnen dar.

Die Sicht der Befürworter und Befürworterinnen

Die meisten BesetzerInnen erkannten die übrigen Anwohner und Anwohnerinnen als Teil der Mainzer Straße an und engagierten sich für ein positives Zusammenleben. In der Straße befand sich eine Stelle für die Rentenauszahlung, vor der sich oft Schlangen bildeten. Die BesetzerInnen fingen beispielsweise an, Sitzmöglichkeiten für die Senioren und Seniorinnen auf der Straße bereitzustellen. Bald wurde auch ein Straßenfest organisiert, das sich schnell als fester Bestandteil des gemeinsamen Alltags entwickelte. Bemerkenswert war die Kinderbetreuung nicht nur für die eigenen Kinder der Besetzerfamilien, sondern auch für die der AnwohnerInnen. Ein kostenloses Kinderkino wurde organisiert, bei dem es Kuchen und Kakao gab und die Kinder auf Matratzen- und Deckenlagern spielen konnten. Ehemalige Hausbesetzer und Hausbesetzerinnen erzählen von innigen Beziehungen, die sich zwischen Kindern und BesetzerInnen entwickelten.

Solidarität mit den Besetzerinnen nach der Räumung

Auch grundsätzlich wünschten sich die HausbesetzerInnen, in Kontakt mit den AnwohnerInnen zu treten, und organisierten offene Besprechungen in der Straße. Im Gegensatz zur Bürgerinitiative, die die polizeiliche Räumung der Häuser forderte, verurteilten diese Aktion ebenso viele: „Das ist das letzte, was sich jeder Bürger hier gewünscht hat“, sagte eine ehemalige Nachbarin. Nach der Räumung gab es eine Gruppe von Anwohnern und Anwohnerinnen, die die unkonventionellen, für alle Interessierten öffentlichen Aktivitäten nach wie vor unterstützte. Die Gruppe wandte sich an die Politik und beschwerte sich massiv über die Brutalität der Polizei, die sowohl gegen BesetzerInnen als auch gegen Nachbarn und Nachbarinnen ausgeübt wurde. Bei der Räumung wurden durch Wasserwerfer und Wurfgeschosse auch Wohnungen von Unbeteiligten beschädigt. Ein Anwohner beklagte bei der Polizei z.B. die Beschädigung seiner Fensterscheibe und Gardine, seines Teppichs und seiner Zimmerpflanzen und den Gestank des Tränengases. Nach der Räumung unterstützten viele NachbarInnen die Besetzer und Besetzerinnen solidarisch mit Kleider- und Möbelspenden.

Während manche Anwohner die Hausbesetzungen klar ablehnten und andere sie begrüßten, war die Haltung vieler auch ambivalent. Fühlte man sich vielleicht auch von dem Auftreten der BesetzerInnen provoziert, so gefiel vielen Anwohnern und Anwohnerinnen doch der Versuch, eine solche alternative Lebensform und ihre die Straße belebenden Aktivitäten zu etablieren.

Hannah Elstner, März 2016

 

Quellenverzeichnis

Akten der Polizeihistorischen Sammlung im Polizeipräsidium Berlin

 

Literaturverzeichnis

A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2008.

Susan Arndt u.a. (Hrsg.), Berlin Mainzer Straße. „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992.