Die Anfänge der Mainzer Straße und das Leben im Arbeiterviertel

Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Siedler von König Friedrich II. von Preußen angeworben, um das Berliner Umland zu bewirtschaften. Dies gestaltete sich schwierig, da die Böden im östlichen Teil Berlins oft sumpfig oder sandig waren und für eine landwirtschaftliche Nutzung nicht besonders geeignet schienen.

Außerdem zogen viele Hugenotten aus Frankreich in dieses Gebiet, die wegen ihrer Religion verfolgt worden waren. Zu diesen Siedlungen gehörten unter anderem Boxhagen und Friedrichsberg. Zwischen diesen beiden ehemaligen Kolonien entstand von 1893 bis 1894 die Mainzer Straße im heutigen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die Straße war bereits 1862 auf dem Bebauungsplan des Stadtbaurats James Hobrecht eingezeichnet.

Heinrich Zilles sozialkritische Zeichnungen zeigten Leben und Milieu des Proletariats in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Mutta, jib doch die zwee Blumtöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!“ Quelle: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heinrich_Zille_Lieschen_im_Jr%C3%BCnen.jpg?uselang=de gemeinfrei

Heinrich Zilles sozialkritische Zeichnungen zeigten Leben und Milieu des Proletariats in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Mutta, jib doch die zwee Blumtöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!“ Quelle: Wikimedia Commons  gemeinfrei

Sozialgeschichte

In der Mainzer Straße gab es hauptsächlich Mietshäuser, daneben Viehställe, Schmieden und Gewerbebauten. Die meisten Häuser in der Gegend hatten häufig Wohnungen mit nur einem Zimmer, vier oder mehr Stuben waren dagegen eine Seltenheit. Im Ortsteil Boxhagen, direkt angrenzend an die Mainzer Straße, bestanden 80 Prozent des Wohnraums aus Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnungen. Etwa drei Viertel aller Wohnungen waren zu dunkel und schlecht belüftet. Weil in sehr kurzer Zeit möglichst viele Mietskasernen gebaut wurden, war die Qualität der Wohnungen oft sehr schlecht. Um 1900 lebten in Berlin etwa 1,7 Millionen Menschen. Davon waren etwa zwei Drittel aller Bewohner Zugezogene.

Um 1900 lebten Arbeiterfamilien in Berlin meist in Wohnungen mit nur einer Stube und Küche, das WC befand sich auf dem Flur und wurde mit dem restlichen Stockwerk geteilt. Meistens konnten die einzelnen Familienmitglieder nicht in einem eigenen Bett schlafen, sondern mussten es mit anderen Personen teilen. Ihre Bewohner gehörten zur Unterschicht der Gesellschaft. Tagsüber wurden die Wohnungen oft an sogenannte Schlafburschen vermietet.

Heinrich Zille: Der späte Schlafbursche (1902). Quelle: Stiftung Stadtmuseum Berlin / Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zille_Der-spaete-Schlafbursche_GDR-73-100-6.jpg?uselang=de gemeinfrei

Heinrich Zille: Der späte Schlafbursche (1902). Quelle: Stiftung Stadtmuseum Berlin / Wikimedia Commons gemeinfrei

Schlafburschen

Unter Schlafburschen oder Bettgeher, wie sie auch genannt wurden, versteht man „alle jene […], die nur eine Schlafstelle in der Wohnung des Vermieters benutzen durften, und auch diese mitunter nicht allein“.[1] Oft vermieteten ärmere Familien ihre Betten für ein paar Stunden an Schlafburschen, um regelmäßig die hohe Miete für ihre Wohnung bezahlen zu können. „Ein Bettgeher brachte etwa ein Viertel der Miete für eine Zimmer-Küche-Wohnung ein.“[2] Bettgeher selbst konnten sich keine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer leisten. Sie wechselten häufig ihre Unterkunft und kamen so bei vielen verschiedenen Familien unter. Meistens erhielten sie von ihren Vermietern ein Frühstück. Eine weitere warme Mahlzeit anzubieten, konnten sich die Vermieter nicht leisten. Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse wurde von den Vermietern der Betten erwartet, dass die Bettgeher die Wohnung nur zum Schlafen aufsuchten.

Heinrich Zille, Trockenwohner, in: Otto Nagel: H. Zille. Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Künste, Henschelverlag, Berlin 1970, S. 147. Quelle: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zille_Trockenwohner.JPG?uselang=de gemeinfrei

Heinrich Zille, Trockenwohner, in: Otto Nagel: H. Zille. Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Künste, Henschelverlag, Berlin 1970, S. 147. Quelle: Wikimedia Commons gemeinfrei

Trockenwohner

In die neugebauten Häuser zogen nicht direkt die Mieter ein. Oft waren die Wohnungen aufgrund ihrer Bauweise feucht und mussten drei Monate trocknen, bevor sie vermietet werden konnten. Um diesen Prozess zu beschleunigen, durften sogenannte Trockenwohner in diesen drei Monaten gegen eine geringe Miete oder kostenlos in den Wohnungen leben. Durch ihren Atem und ihre Körperwärme beschleunigten sie den Trockenprozess, jedoch auf Kosten ihrer Gesundheit. Die Trockenwohner gehörten zum ärmsten Teil der Bevölkerung und konnten sich sonst keine Wohnung leisten und waren obdachlos. Durch Wohnungsmangel und zu hohe Mieten verschärfte sich die Wohnsituation zusätzlich.

Eine durchschnittliche Arbeiterfamilie verdiente ca. 1500 Mark im Jahr. Neben dem Mann arbeitete in der Regel auch die Frau, oft verdiente sie durch Näh- oder Wascharbeiten von zu Hause aus Geld. Auch die Kinder trugen oft ihren Teil zur finanziellen Unterstützung bei, indem sie zum Beispiel Zeitungen austrugen oder als Boten arbeiteten. Der Großteil des Verdienstes musste für Nahrungsmittel ausgegeben werden. Aus den Adressbüchern von 1895 lässt sich ablesen, dass die meisten Bewohner der Mainzer Straße handwerklichen Berufen nachgegangen sind. So wohnten beispielsweise Maurer, Schlächter, Tischler, Schlosser und Kutscher Tür an Tür.

Sarah Schmid und Friederieke Wiegand, Februar 2016

 

[1] Josef Ehmer, Wohnen ohne eigene Wohnung. Zur sozialen Stellung von Untermietern und Bettgehern, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der Bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal 1979, S. 123-143, hier S. 132.

[2] Ehmer, Wohnen ohne eigene Wohnung, S. 143.

 

Literaturverzeichnis

Wanja Abramowski, Siedlungsgeschichte des Bezirks Friedrichshain von Berlin bis 1920, Berlin 2000.

Rosmarie Beier, Leben in der Mietskaserne. Zum Alltag Berliner Unterschichtsfamilien in den Jahren 1900-1920, in: Gesine Asmus, Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901-1920, Reinbek 1982, S. 244-270.

Martin Düspohl/Dirk Moldt, Kleine Friedrichshaingeschichte, Berlin 2013.

Josef Ehmer, Wohnen ohne eigene Wohnung. Zur sozialen Stellung von Untermietern und Bettgehern, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der Bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal 1979, S. 132-150.

Landesdenkmalamt Berlin (Hrsg.), Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Berlin. Bezirk Friedrichshain, Berlin 1996.

Quartiersmanagement Boxhagener Platz (Hrsg.), Boxhagen – Zwischen Aufruhr und Langeweile. Eine Stadtteilgeschichte von Wanja Abramowski, Berlin 2003.

Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. Bonn 1992.

Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1895, hrsg. unter Mitwirkung von H. Schwabe (ab 1881 von W. & S. Loewenthal), Berlin 1873-1895 / Digitale Landesbibliothek Berlin.