„Tötungsbereite Chaoten“ gegen „brutale Bullen“? Die Räumung der Mainzer Straße am 14. November 1990

Vorurteile und Feindbilder machen es leicht, Konfliktsituationen zu erklären oder Gewaltausbrüche zu rechtfertigen. Schuld ist dabei immer die Gegenseite. Selbst 25 Jahre nach der Straßenschlacht um die Mainzer Straße, das damalige vermeintliche Zentrum der Berliner Hausbesetzerszene, gibt es immer noch Darstellungen, die entweder die „tötungsbereiten Chaoten“ oder die „brutalen Bullen“ für die Ereignisse am 14. November 1990 verantwortlich machen.

Eine umfassende geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung fehlt bisher. Berichte von BesetzerInnen, Polizei und JournalistInnen widersprechen sich an vielen Stellen, und nur wenige direkt Beteiligte wollen heute über dieses traumatische Ereignis sprechen. Doch lässt sich eine Gewaltspirale erkennen, deren Anfangspunkt schwer auszumachen ist, deren Verlauf jedoch besonders die jeweiligen „Hardliner“ am Ende des „kurzen Sommers der Anarchie“ prägte – sowohl von staatlicher Seite als auch aus der Hausbesetzerszene.[1]

Obwohl die Mainzer Straße in Ost-Berlin lag, waren keine ehemaligen VolkspolizistInnen der DDR an der Räumung beteiligt. West-Berliner PolizistInnen, die bereits vielfach Erfahrung mit der gewaltbereiten autonomen Szene in Kreuzberg hatten, leiteten den Einsatz. Wie sich später bei den Festnahmen herausstellte, standen sie bei diesem bürgerkriegsähnlichen Konflikt wiederum vor allem radikalen BesetzerInnen aus West-Berlin und -Deutschland gegenüber. Die Situation eskalierte.

Am Morgen des 14. November 1990 begann einer der massivsten und brutalsten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik. Hier der Versuch einer Rekonstruktion aufgrund von Polizeiakten sowie Berichten aus der Besetzerszene und der Presse:

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Mittwoch, 14. November 1990, 3:45 Uhr: In der Nacht entdecken BewohnerInnen der Mainzer Straße einen Kellerbrand in der Nummer 23, einem „normalen“ Mietshaus zwischen der besetzten 22 und 24. MieterInnen und BesetzerInnen aus der ganzen Straße helfen beim Löschen. Sogar die Barrikaden werden geöffnet, um die Feuerwehr durchzulassen. Die BesetzerInnen sehen in dem Brand einen Sabotageakt: Das letzte noch funktionierende Telefon in den besetzten Häusern sei bei Beginn des Brandes vorsätzlich abgestellt worden, so ihre Wahrnehmung. Zudem seien genau zu diesem Zeitpunkt auf den Dächern der Frankfurter Allee gegenüber der Mainzer Straße Dokumentationsteams der Polizei erschienen, um die Anzahl der „Störer“ hinter den Barrikaden festzustellen.[2]

6:00 Uhr: Der Einsatz beginnt. Etwa 3000 Polizistinnen und Polizisten, davon ca. 1200 BeamtInnen aus Nordrhein-Westfalen und 300 aus Niedersachsen, nähern sich in voller Schutzausrüstung mit Tränengasmunition, zehn Wasserwerfern, mehreren Hubschraubern und diverser anderer Technik von allen Seiten den Zugängen zur Mainzer Straße.[3] Ihnen stehen etwa 500 BesetzerInnen gegenüber – auf der anderen Seite der bis zu vier Meter hohen Barrikaden. Mit einem Bagger haben sie in den letzten Tagen die Straße aufgerissen und ein tief gestaffeltes Grabensystem ausgehoben, das an die Westfront des Ersten Weltkrieges erinnert. Davor stapeln sich Müllcontainer, Stacheldraht, umgestürzte Autos, alte Sofas, Einkaufswagen, Autoreifen und andere Dinge, die das Vordringen der Polizei behindern sollen. Eine Straßenbahn blockiert zudem den von der Boxhagener Straße ausgehenden Zugang.[4] Alle Straßenschilder sind seit einigen Tagen schwarz übersprüht, um den ortsfremden westdeutschen PolizistInnen die Orientierung zu erschweren.[5]

6:11 Uhr: „Ca. 100 Personen halten Straßenbahn in der Boxhagener Str. / Mainzer Straße an“,[6] stellt das Minutenprotokoll der Polizei fest. Der Hinweis, dass diese Menschenkette, die vor den Barrikaden „Keine Gewalt“ und „Keine Räumung“ fordert,[7] von der Polizei teilweise unverhältnismäßig abgedrängt wird, fehlt dort jedoch. Unter den zum Teil prominenten SympathisantInnen, vor allem vom Bündnis 90, befindet sich ebenfalls die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Auch sie wird „von einem Wasserwerfer weggespritzt“,[8] berichtet die taz.

Die „Eindringphase“ beginnt

6:30 Uhr: Als die BeamtInnen beginnen, Absperrungen zu errichten und mit Sondereinsatzkommando-Einheiten über Baugerüste und die angrenzenden Häuser der Frankfurter Allee die Dächer der Mainzer Straße einzunehmen, werden sie von dort mit Steinen, Signalmunition und Brandsätzen angegriffen. Die Einsatzkräfte antworten von unten mit Tränengasbeschuss.[9] Einige AugenzeugInnen wie Beteiligte sprechen sogar von Gummigeschossen, deren Einsatz in Berlin bis heute verboten ist. In den Auswertungen und Protokollen der Polizei gibt es dazu keinen Vermerk. Die Verteidigung „von oben“, die sich bereits gegen die Angriffe der Neonazis bewährt hat,[11] erschwert das Wegräumen der Barrikaden und das direkte Eindringen in die Häuser.

7:04 Uhr: Via Funk kommt die Meldung über ein Feuer in einem Badezimmer in der Mainzer Straße 24. Tatsächlich handelt es sich um den Brand in der Nr. 23, der erneut ausgebrochen ist. Bärbel Bohley, die weiterhin zwischen BesetzerInnen und Polizei vermittelt, garantiert einen „gefahrlosen Zugang“[12] der Feuerwehr. Doch die wagt sich wegen der Gewalteskalation nicht mehr in die Straße. Da auf die Bitte nicht eingegangen wird, den Einsatz auszusetzen, löschen die BesetzerInnen und BewohnerInnen den Brand selbst.[13]

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Die Räumungsfahrzeuge kommen nicht durch, und die Polizei muss zu Fuß vordringen

7:32 Uhr: Kommando „Einsatzkräfte Marsch!“ – ein Wasserwerfer rückt mit einem Eindringkommando von der Boxhagener in die Mainzer Straße vor. Beim Abräumen der Barrikaden hilft nun auch ein gepanzertes Räumfahrzeug, das jedoch bereits im ersten Graben steckenbleibt und herausgezogen werden muss. Über Megaphon kommt der Befehl, zu Fuß in die Mainzer Straße vorzudringen. „Gegen den nun einsetzenden Steinhagel schützten sich die Bullen mit 2×1 Meter großen Schildern“,[14] heißt es in einer nachträglichen Chronologie der BesetzerInnen. In mehreren „Notwehrsituationen“ werfen Beamtinnen und Beamte sogar Steine auf die „Störer“ zurück.[15] Auch von der Frankfurter Allee aus versucht die Polizei, mit Wasserwerfern vorzudringen. Beim Kampf gerät eine Reihe altvermieteter Wohnungen in Mitleidenschaft: Eine Tränengasgranate durchschlägt das Fenster einer Wohnung, in der sich eine unbeteiligte Familie mit Baby aufhält.[16]

7:44 Uhr: Drei Schüsse fallen. Ein Beamter zieht aus Notwehr seine Waffe und gibt drei Warnschüsse ab. Ein Querschläger trifft einen unbeteiligten Mann in den linken Fuß.[17] Erst drei Stunden später wird er von den PolizistInnen, die ihn erst wegen Landfriedensbruch festhalten und seine Verletzung anzweifeln, ins Krankenhaus gebracht. Am nächsten Tag stellt er Strafanzeige gegen die Polizei wegen gefährlicher Körperverletzung.[18]

Die Dächer werden gestürmt

7:51 Uhr: Während die Polizei mit Wasserwerfern, Räumpanzern und einem flächendeckenden Tränengasbeschuss einen Scheinangriff auf den Zugang Frankfurter Allee / Mainzer Straße durchführt, dringen SEK-Einheiten über den Treppenaufgang des Hinterhauses Frankfurter Allee 42 bis zum Dach vor. Von dieser strategischen Position aus werfen die Besetzerinnen und Besetzer nicht nur Steine und „Molotowcocktails“, sondern auch Gehwegplatten, Nagelbretter, Schornsteinteile und Toilettenbecken – sogar gusseiserne Gullideckel. Einige BeamtInnen werden auch mittels Schleudern mit Stahlkugeln und Sechskantmuttern beschossen.[19] Es ist ein Wunder, dass es bei den Beteiligten „nur“ zu Verletzungen kommt.

8:01 Uhr: Polizeieinheiten räumen „unter Schlagstockeinsatz die Grünberger Straße in Richtung Gärtnerstraße“.[20] Dort verstellen SympathisantInnen und VermittlerInnen immer noch den Zugang zur Mainzer Straße.

8:03 Uhr: Die BesetzerInnen auf den Dächern beschießen einen Aufklärungshubschrauber mit Signalmunition und versuchen, ihn mit aufsteigenden Luftballons abzudrängen.[21]

8:05: SEK-Einheiten nehmen die Dächer der Mainzer Straße 2 bis 10 ein. Von hier aus arbeiten sie sich Stück für Stück auch zu den anderen Dächern vor, zum Teil über „spanische Reiter“ und Stolperfallen aus Draht.[22] Dann dringen die BeamtInnen über die Dachböden in die Häuser ein und räumen sie von oben nach unten. Bald ist das besetzte Haus 12a „störerfrei“.[23] Einige BesetzerInnen geben den Widerstand auf und verlassen die Häuser.

8:34 Uhr: Alle Dächer der Mainzer Straße sind von der Polizei eingenommen.

Die BesetzerInnen ziehen sich zurück und warten auf ihre Festnahme

8:51 Uhr: Die letzten Kämpfenden ziehen sich in die Häuser zurück. Nun beginnt die „Durchsuchungsphase“.[24]

9:00 Uhr: Beim Versuch, in die besetzten Häuser einzudringen, stoßen die Polizistinnen und Polizisten allerdings auf massiv verbarrikadierte Türen und Sperranlagen, darunter auch Falltüren mit langen spitzen Dornen.[25] Die meisten dieser vermeintlichen „Tötungsvorrichtungen“ sind jedoch nicht kurz vor der Räumung installiert worden, sondern viele Wochen vorher, um die Häuser gegen die Angriffe der Neonazis auf die Mainzer Straße zu schützen. Dagegen hängen die Stromkabel, welche die Polizei als „Elektrofallen“ interpretiert, bereits aus den Wänden, seitdem das Haus zur Sprengung vorgesehen ist.[26]

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Die Todesangst entlädt sich in Brutalität

9:26 Uhr: Über Funk werden etwa 135 „Freiheitsentziehungen“ gemeldet, darunter befindet sich auch eine Abgeordnete. An VerbindungsbeamtInnen geht die Weisung, alle Möglichkeiten der Beweissicherung „an Gegenständen wie Flaschen, Mollis usw. voll auszuschöpfen“.[27] Neben Schleudern und anderen Waffen finden die BeamtInnen auch mehrere selbst angefertigte „Morgensterne“.[28] Diese mittelalterlichen Waffen stammen allerdings nach den Aussagen von Freke Over, damals Sprecher der Besetzer und später Politiker bei PDS / Die Linke, von einer Gruppe HausbesetzerInnen, die sich für Rollenspiele und Mittelaltermärkte interessiert.[29] Die Polizeiberichte bestätigen dies indirekt: Es gibt keine Meldungen, dass diese oder andere Nahkampfwaffen gegen PolizistInnen eingesetzt werden. Zusammen mit dem gewalttätigen Widerstand und den vermeintlichen „Tötungsvorrichtungen“ in den Häusern verstärken die gefundenen „Tötungsgeräte“ allerdings bei den Beamtinnen und Beamten das Erlebnis der Todesgefahr, das nicht spurlos an ihnen vorbeigeht. Einige haben sich nicht mehr unter Kontrolle. Es kommt zum Teil zu schweren Misshandlungen an festgenommenen Personen – BesetzerInnen, die sich längst nicht mehr wehren. Ein Hausbesetzer oder eine Hausbesetzerin berichtet einige Tage später von „besonders blutigen Szenen“, die sich in zwei Häusern abgespielt haben sollen:

„Alle wurden mit Tritten auf den Kopf zu Boden gezwungen, Frauen in den Unterleib getreten, so daß ein Milzriß (zwei Tage Intensivstation mit Lebensgefahr), eine Leber-Gallen-Stauchung (Vergiftungserscheinungen mit Lebensgefahr) und schwere Unterleibsblutungen zu verzeichnen waren. Ganz zu schweigen von den Knochenbrüchen und schweren Gehirnerschütterungen, Platzwunden und Prellungen, die den BesetzerInnen und UnterstützerInnen zugefügt wurden, obwohl selbst der Polizeibericht nur in einem Fall von Widerstand redet. Eigentlich wurden alle Festgenommenen verletzt. Dabei blieben die Insassen des Tuntentowers noch halbwegs verschont, da in ihrem Haus viel Prominenz anwesend war, so daß sich die Polizei nicht traute, ihre Prügelorgie abzuziehen. Von AnwohnerInnen wurde beobachtet, wie Menschen unverletzt in die Häuser gingen und sie schwerverletzt, blutüberströmt wieder verließen. Die Polizei standen in den Häusern Spalier, das die Gefangenen passieren mussten, wobei es zu sexistischen Übergriffen gegen Frauen kam.“[30]

11:40 Uhr: In der Mainzer Straße 2 werden vier Schlangen sichergestellt. Dabei wird ein Beamter gebissen.[31]

11:45 Uhr: Die Pressearbeit vor Ort erfolgt bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von der Polizei. Jetzt werden auch den zahlreichen wartenden ReporterInnen eine Berichterstattung und eine Begehung der Häuser ermöglicht. Mit wenigen Ausnahmen berichten die Medien in den Folgetagen extrem einseitig und unreflektiert über die „tötungsbereiten Chaoten“. Die Brutalität gegen die festgenommenen BesetzerInnen behandelt kaum jemand.

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Der Einsatz ist beendet, das politische und gesellschaftliche Nachspiel beginnt

12:54 Uhr: Die Durchsuchungsphase ist abgeschlossen. Die Verhaftungen dauern jedoch noch bis in den Nachmittag. Ein Polizeisprecher erklärt der Presse, es läge ein Räumungsbegehren der zuständigen Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain vor. „Dort aber findet sich niemand, der das in den letzten beiden Tagen gestellt haben will“, berichtet die Junge Welt.[32] Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Wieland beurteilt daher wenige Tage später die Räumung als rechtswidrig: Die Kommunale Wohnungsverwaltung habe der „Mainzer Straße“ am 21. Mai ein Bleiberecht bestätigt, das auch für ihren Rechtsnachfolger nach der Wiedervereinigung, die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain, verbindlich gewesen sei.[33]

14:00 Uhr: Auf einer Pressekonferenz äußern sich Innensenator Erich Pätzold und der Regierende Bürgermeister Walter Momper zu der Räumung. Momper wirft der Besetzerszene „Verrohung“, „Gewaltkriminalität“ und „blanke Mordlust“ vor. Die BesetzerInnen seien nicht zu Verhandlungen bereit gewesen.[34] Zum Beweis präsentiert die Polizei einen „Supermolli“, eine mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte Gallone auf den Dächern der Mainzer Straße. Erst später stellt sich heraus, dass sich darin kein Benzin befand, sondern gegorener Apfelsaft.[35] Zeitgleich kritisieren Bärbel Bohley und Siegfried Zoels auf einer Pressekonferenz im Haus der Demokratie die ungenügende Bereitschaft der Verantwortlichen in der Regierung für eine politische Lösung.[36] Am 22. November berichtet die taz, dass ihr Dokumente vorlägen, die die Verhandlungsbereitschaft der „Mainzer Straße“ vor der Räumung bestätigten.

14:13 Uhr: Nach ersten Zählungen der Polizei sind bei dem Einsatz 75 BeamtInnen und gerade einmal drei „Störer“ verletzt worden.[37] Auch im Nachhinein wird die letzte Zahl nicht mehr korrigiert.

Jeder zweite Festgenommene kam aus West-Berlin

15:00 Uhr: Die Mainzer Straße wird mit hohen Gittern abgesperrt, nachdem die Festgenommenen abgeführt worden sind. Von den insgesamt 347 festgenommenen vermeintlichen StraftäterInnen werden am Folgetag 300 Personalien statistisch ausgewertet: Darunter sind knapp 80 % Männer und 20 % Frauen sowie 84 % Erwachsene und 16 % Heranwachsende und Jugendliche. Gerade einmal 17 % der festgenommenen BesetzerInnen kommen ursprünglich aus Ost-Berlin, dafür aber 26 % aus den alten Bundesländern und 53 % aus West-Berlin, hauptsächlich aus der Kreuzberger Besetzerszene. Bis auf acht Personen werden jedoch alle anderen Festgenommenen mangels vorliegender Haftgründe entlassen.[38]

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Abends: Der Delegiertenrat der Alternativen Liste empfiehlt Fraktion und Parteivorstand die sofortige Aufkündigung der Berliner Regierungskoalition mit der SPD. Ab 17 Uhr demonstrieren etwa 10.000 Menschen aus Solidarität mit den nun heimatlosen BesetzerInnen. Am Frankfurter Tor und am Bersarinplatz, nur wenige Straßen von der Mainzer entfernt, kommt es bis nach Mitternacht erneut zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dabei wird auch das nahe gelegene Café Kosmos mit Tränengasgranaten beschossen. Beim Innensenator Pätzold gehen in den Folgetagen Beschwerden ein, wonach PolizistInnen sogar die flüchtenden Gäste im unübersichtlichen Tumult mit weiterem Gasbeschuss regelrecht durch die Straßen gejagt hätten.[39] Nachts beobachten AnwohnerInnen zudem, wie Polizistinnen und Polizisten in der abgesperrten Mainzer Straße feiern, aber auch sämtliche Wohnungseinrichtungen zerstören, um die Häuser endgültig unbewohnbar zu machen: Sie werfen Möbel, Stereoanlagen, Bücher und andere Gegenstände auf die Straße und schreiten auch kaum ein, als es zu Plünderungen kommt.[40]

Die brutale Machtdemonstration an diesem Tag wirkt: Die Mehrheit der restlichen besetzten Häuser in Berlin verhandelt nach dem 14. November Verträge mit Politik und HauseigentümerInnen aus.

Jakob Saß, März 2016

Diorama der Räumung am 14. November 1990. Dieses Modell wurde nachträglich von einem beteiligten Polizeibeamten worden, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Es befindet sich aktuell in der Polizeihistorischen Sammlung Berlin. Quelle: Deutsches Historisches Museum © mit freundlicher Genehmigung

Diorama der Räumung am 14. November 1990. Dieses Modell wurde nachträglich von einem beteiligten Polizeibeamten angefertigt, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Es befindet sich in der Polizeihistorischen Sammlung Berlin. Quelle/Foto: Deutsches Historisches Museum © mit freundlicher Genehmigung

[1] Vgl. Dirk Moldt, Friedrichshain – mehr als ein Bezirk?, in: Martin Düspohl/Dirk Moldt (Hrsg.), Kleine Friedrichshaingeschichte, Berlin 2013, S. 29.

[2] Vgl. Info-Büro Mainzer Straße, Infoblatt. Mainz bleibt meins, Berlin 1990.

[3] Vgl. Susan Arndt u.a. (Hrsg.), Berlin, Mainzer Straße: „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992, S. 22.

[4] Vgl. Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, Berlin 14.11.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[5] Vgl. Tagesspiegel vom 15.11.1990.

[6] Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, 14.11.1990.

[7] Vgl. Infoblatt „Mainz bleibt meins“.

[8] taz vom 13.11.2010.

[9] Vgl. Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, 14.11.1990.

[10] Interview mit Freke Over; Infoblatt „Mainz bleibt meins“; Die Zeit vom 23.11.1990.

[11] Vgl. Interview mit Freke Over.

[12] Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, 14.11.1990.

[13] Vgl. Infoblatt „Mainz bleibt meins“.

[14] Infoblatt „Mainz bleibt meins“.

[15] Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen aus Anlaß der Hausräumungen in der Mainzer Straße am 14.11.1990, Berlin 16.11.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[16] Arndt, Berlin, Mainzer Straße, S. 22.

[17] Vgl. Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[18] Vgl. Bericht über Strafanzeige gegen Polizei wegen Schüssen bei Hausräumung, Berlin 16.11.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[19] Vgl. Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990; Protokoll über die Einsatzbesprechung des Einsatzes in Berlin vom 13.-20.11.1990 anläßlich der Hausräumungen im Bereich Mainzer Straße, Bereitschaftspolizei NRW, Selm 14.1.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[20] Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[21] Vgl. Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[22] Protokoll über die Einsatzbesprechung (NRW), 14.11.1990.

[23] Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[24] Vgl. Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[25] Vgl. Protokoll über die Einsatzbesprechung (NRW), 14.11.1990, Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[26] Vgl. Interview mit Freke Over.

[27] Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, Berlin 14.11.1990.

[28] Protokoll über die Einsatzbesprechung (NRW), 14.11.1990.

[29] Vgl. Interview mit Freke Over.

[30] Dietmar Wolf, Die Mainzer Straße – Chronologie einer Räumung,  zitiert nach: Bericht des Straßenplenum Mainzer Straße, veröffentlicht in der PROWO vom 23. November 1990, telegraph.cc (zuletzt abgerufen: 24.1.2016).

[31] Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[32] Arndt, Berlin, Mainzer Straße, S. 25.

[33] taz vom 22.11.1990.

[34] Vgl. Protokoll der Pressekonferenz zur Räumung Mainzer Straße, 14.11.1990.

[35] Vgl. taz vom 13.11.2010.

[36] Vgl. Arndt, Berlin, Mainzer Straße, S. 27.

[37] Vgl. Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen, 16.11.1990.

[38] Vgl. Vorläufiges Auswertungsergebnis der Festnahmen am 14.11.1990, Berlin 15.11.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[39] Vgl. Schreiben von Bürgern an den Senator für Inneres Erich Pätzold, Berlin 18.11.1990, Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv.

[40] Vgl. Wolf: Die Mainzer Straße – Chronologie einer Räumung, in: telegraph.cc.

Literaturverzeichnis

Susan Arndt u.a. (Hrsg.): Berlin, Mainzer Straße: „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992.

Dirk Moldt: Friedrichshain – mehr als ein Bezirk?, in: Martin Düspohl/Dirk Moldt (Hrsg.), Kleine Friedrichshaingeschichte, Berlin 2013, S. 28-29.


Quellenverzeichnis

Zeitungen und Broschüren

Dirk Ludigs: „Vertrauen geräumt“, in: taz berlin, 22.11.1990.

Info-Büro Mainzer Straße: Infoblatt. Mainz bleibt meins, Berlin 1990.

Unbekannt: Leuchtraketen erhellen die Ost-Berliner Nacht, in: Tagesspiegel, 15.11.1990.

Webquellen

Dietmar Wolf: Die Mainzer Straße – Chronologie einer Räumung, in: telegraph.cc, URL: http://telegraph.cc/die-mainzer-strasse-chronologie-einer-raeumung/ (zuletzt abgerufen: 24.1.2016).

Ernst-Michael Brandt: Ich wollte hier doch nur wohnen. Wie die Gewalt eskalierte, in: zeit.de, 23.11.1990, online unter: http://www.zeit.de/1990/48/ich-wollte-hier-doch-nur-wohnen/seite-3 (zuletzt abgerufen: 24.1.2016).

Protokoll der Pressekonferenz zur Räumung Mainzer Straße, online unter: https://www.defa-stiftung.de/filme/filmsuche/pressekonferenz-zur-raeumung-mainzer-strasse/ (zuletzt abgerufen: 27.4.2020).

Umbruch Archiv: Räumung der Mainzer Straße in Berlin, URL: http://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/141190mainzer_strasse.html (zuletzt abgerufen: 24.1.2016).

Uwe Rada: „Die Räumung war schon vorher absehbar“, in: taz.de, 16.11.2010, online unter: http://www.taz.de/!5132223/ (zuletzt abgerufen: 28.1.2016)

Uwe Rada: Das Ende der Anarchie, in: taz.de, 13.11.2010, online unter: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=hi&dig=2010/11/13/a0016&cHash=cb4c439636/ (zuletzt abgerufen: 28.1.2016).

Interviews

Freke Over, 11.1.2016.

Hartmut Moldenhauer, 2.12.2015.

Archivquellen (Polizeihistorische Sammlung Berlin, Archiv)

Auswertung von Erfahrungen anläßlich gewalttätiger Aktionen bei Häuserräumungen in Berlin, Berlin 17.1.1991.

Bericht über Strafanzeige gegen Polizei wegen Schüssen bei Hausräumung, Berlin 16.11.1990.

Dokumentation des Polizeieinsatzes in der Mainzer Straße, Berlin 14.11.1990.

Protokoll über die Einsatzbesprechung des Einsatzes in Berlin vom 13.-20.11.1990 anläßlich der Hausräumungen im Bereich Mainzer Straße, Bereitschaftspolizei NRW, Selm 14.1.1990.

Protokoll über die Einsatzbesprechung des Einsatzes in Berlin vom 13.-20.11.1990 anläßlich der Hausräumungen im Bereich Mainzer Straße, Bereitschaftspolizei NRW, Selm 16.1.1990.

Schreiben von Bürgern an den Senator für Inneres Erich Pätzold, Berlin 18.11.1990.

Verlaufsprotokoll der polizeilichen Maßnahmen aus Anlaß der Hausräumungen in der Mainzer Straße am 14.11.1990, Berlin 16.11.1990.

Vorläufiges Auswertungsergebnis der Festnahmen am 14.11.1990, Berlin 15.11.1990.