Mike Czablewski* war als 20-Jähriger bei der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 mit dabei. Der junge Autonome lebte zu jener Zeit mit FreundInnen in einem besetzten Haus in Friedrichshain. Am Montag, den 12. November, stieg er nach der Arbeit aus der U-Bahn und fand sich mitten im Geschehen wieder.
Im Interview erzählt er Florian Henz vom Leben in seinem Kiez, von der Räumung, den Straßenschlachten, seiner Festnahme sowie seiner heutigen Sicht auf die Ereignisse vor rund 25 Jahren. Mit seiner Erzählung gibt Mike einen seltenen Einblick in die Ostberliner HausbesetzerInnenszene nach der Wiedervereinigung. Als „richtiger“ Hausbesetzer sieht er sich im Rückblick allerdings nicht.
Das Interview wurde am 6. Dezember 2015 in Berlin geführt.
Hallo Mike Czablewski, vielen Dank, dass du dir die Zeit für unser Gespräch genommen hast. Erzähl mir bitte etwas über dich. Wo kommst du her, und was war 1990 für dich wichtig?
Ja genau, 1990 mit Anfang 20 habe ich damals in einem besetzten Haus gewohnt. Am Ende der DDR war ich in Kirchengruppen aktiv, komme also ursprünglich eher aus den Umweltgruppen. Irgendwann hat sich das dann mit einem linken Bewusstsein gekoppelt. In der „Kirche von Unten“ gab es eine erste Antifa-Gruppe, ab ca. 1987, also nach dem Überfall auf die Zionskirche. 1988/89 war ich also in dieser Antifa mit aktiv. Aus diesem Umfeld komme ich und habe mich da bewegt.
Ich habe Anfang 1990 ein Haus besetzt in Friedrichshain, mit anderen Leuten, die ich aus diesem Antifa-Umfeld kannte. Dort bin ich aber ausgezogen und habe dann zu der Zeit der Räumung in der Mainzer Straße gewohnt. Das erste besetzte Haus war in der Schreinerstraße 47, ein Haus, das im Bewusstsein der Hausbesetzerszene nicht so wirklich existiert hat. Es ist erst später mit dem Tod von Silvio Meier mehr in den Fokus gerückt. Das war eher ab vom Schuss, und die Leute dort haben sich aus den Hausbesetzerräten und der Vernetzung relativ rausgehalten. Sie waren auch teilweise älter als ich. In dem Haus gab es zwei Fraktionen: eine etwas ältere, die tatsächlich aus der DDR-Friedensbewegung kam, zu der auch Silvio Meier gehörte. Sie waren alle so fünf, sechs, sieben Jahre älter als ich. Und dann gab es jüngere Leute, die damit nicht so viel zu tun hatten und eher Antifa- und erlebnisorientiert waren, teilweise auch nicht aus Berlin kamen. Zu dieser anderen Fraktion gehörte ich.
Du kommst also aus Friedrichshain und hattest, zumindest weitestgehend, mit den HausbesetzerInnen um die Mainzer Straße zu tun. Da du vor Ort warst, möchte ich dich bitten, zu erzählen, wie das bei der Räumung war.
Na ja, also zuerst einmal: Die „Räumung“ war ja ein längerer Prozess. Der ganze Vorgang dauerte drei Tage. Die Räumung selbst war an einem Mittwochmorgen, aber angefangen hat das eigentlich am Montag. Dazu kann ich aber nicht so viel sagen, da war ich nämlich auf Arbeit und kam zum Feierabend vermutlich gegen 17 oder 18 Uhr mit der U-Bahn nach Hause. Als ich oben aus der U-Bahn rausgekommen bin, war dort schon der Teufel los. Da begannen die Ausschreitungen mit den Bullen und den Leuten, die sich mit den Bullen auseinandergesetzt haben. Es gab aber noch keine Barrikaden, und es hat auch noch nicht gebrannt. Zu der Zeit war es noch ein bisschen hell. Die Bullen hatten aber schon versucht, in die Straße einzudringen – ob sie jetzt die Straße wirklich räumen wollten oder ob sie irgendwas anderes machen wollten, das weiß ich nicht, aber da fing eigentlich die Auseinandersetzung an.
Begonnen hat das Ganze ja wohl schon am Vormittag, aber ich kann ja erst ab diesem Zeitpunkt berichten. Da habe ich Freunde von mir getroffen, die auch teilweise in der Mainzer Straße gewohnt haben – auch wenn ich in der Mainzer Straße eigentlich nicht viele Freunde oder Bekannte hatte. Das war wie eine Welt für sich. Vielleicht schweife ich ein bisschen ab, aber eigentlich war die Mainzer Straße zu diesem Zeitpunkt der Räumung … Naja, im Grunde wollten die Leute dort schon Verträge machen und sich mit dem Senat einigen. Eigentlich waren die politisch schon nicht mehr so eingestellt, wie ich das damals gut fand. Die Leute, die ich aus der Mainzer kannte, wollten zu diesem Zeitpunkt auch schon dort ausziehen. Das konnten die Bullen natürlich nicht unbedingt wissen. Die hätten einfach noch zwei Monate warten müssen, und dann hätte sich das schon erledigt, genauso wie mit den weiteren besetzten Häusern auch. Aber gut, das ist ein anderes Thema.
An dem Montag kam ich eben, wie gesagt, aus der U-Bahn. Oben standen ein paar Kumpels von mir, und die waren natürlich in heller Aufregung. Teilweise wohnten die ja noch in der Straße, und irgendwie war ja auch ihr Hab und Gut bedroht. Na ja, ich bin dann eben kurz nach Hause gegangen, weil ich ja gerade von der Arbeit kam, und habe mich entsprechend umgezogen – man muss sich ja ein bisschen vorbereiten auf das, was da kommen wird. Als ich zurückkam, haben sich die Auseinandersetzungen mit einer Heftigkeit entwickelt, was man nicht so erwartet hätte und was ich auch noch nicht so kannte – und auch danach nicht mehr erlebt habe.
Es hat sich nicht nur auf die Straße konzentriert, sondern es war eher so, dass Gruppen von 20 oder 30 Leuten in den Seitenstraßen unterwegs waren und sich dort Auseinandersetzungen mit den Bullen geliefert haben, also die Mainzer Straße selbst nicht unbedingt betroffen war. Die Bullen sind gar nicht ständig durch die Straße gefahren – die kamen da eigentlich nicht ran. Auffällig war auch, dass relativ wenige Szeneleute an den Auseinandersetzungen beteiligt waren. Da kamen jetzt nicht Tausende Autonome aus Kreuzberg zur Hilfe. Im Nachhinein hat man erfahren, dass der eine oder andere schon kam, aber das war nicht augenscheinlich. Auf mich wirkte es eher so, als ob viel Bevölkerung unterwegs war, die auch ihren Frust rausließ. Also die haben da so ein bisschen auf den Putz gehauen, Prolls mit Schals umgewickelt oder, bei uns auf der anderen Seite der Frankfurter Allee, da gab es so eine Kindergang, 14-Jährige mit Baseballjacken. Zur damaligen Zeit wusste man auch nicht so genau, wie die drauf waren – das hätten auch Rechte sein können, die waren auch beteiligt. Das waren jetzt nicht unbedingt nur Autonome oder Hausbesetzer, die sich da betätigt haben. Das war relativ auffällig.
Ich fand das damals gut, weil ich nicht unbedingt so begeistert von der Hausbesetzer-Szene war, bin ich auch heute noch nicht. Es kann natürlich sein, dass das eine verzerrte Wahrnehmung ist, weil man sich eben über jeden Nichtszene-Typen gefreut hat, der sich da beteiligte. Es gab aber auch das andere Extrem. So kamen Leute, denen der Trabi abgebrannt war, und griffen die Hausbesetzer an und prügelten sich mit ihnen. Aber es gab auch Autobesitzer, die haben ihren Tankdeckel geöffnet, damit man sich da Benzin rausholen konnte. Es gab eben beide Seiten. Das war schon auffällig.
Auf mich wirkten die Bullen relativ konzeptlos – vielleicht haben die auch nicht mit dieser Heftigkeit der Gegenwehr gerechnet. Wie viele Leute sich genau beteiligt haben, weiß ich nicht, aber es war eher wie ein Kiezaufstand. Und damit haben die nicht gerechnet. Sie waren irgendwie auch völlig überfordert und planlos, muss man sagen. Hinten auf der Boxhagener haben sie einen Wasserwerfer eingesetzt mit so einem Gleitgel, damit man da nicht mehr laufen konnte. Sie konnten sich dann aber selber auch nicht mehr fortbewegen und sind ausgerutscht auf dem Gleitgel. Also das wirkte relativ konzeptlos. Sie kamen eben nicht ran und wurden immer weiter weggedrängt von der Mainzer Straße. Um ca. 0:30 Uhr oder 1.00 Uhr nachts mussten sie sich bis hinter das Frankfurter Tor zurückziehen. Also der ganze Kiez war eigentlich bullenfrei. Die sind abgehauen, haben mehr oder weniger die Flucht ergriffen.
Das war schon etwas Einmaliges, das kannten auch die West-Berliner nicht, dass sich die Bullen zurückziehen. Die haben eigentlich immer gewonnen, also immer. Nur dieses Mal eben nicht. An diesem Montagabend mussten sie sich zurückziehen – das war eine neue Erfahrung. Das machte vielleicht auch die Besonderheit dieser Auseinandersetzung um die Mainzer Straße aus – wenigstens einmal hatte man gewonnen. Ebenso einmalig war nicht nur, dass sich die Bevölkerung, also die normalen Leute, an den Auseinandersetzungen beteiligt haben, sondern sie haben eben auch die Gunst der Stunde genutzt und Läden geplündert. Da hat sich vielleicht der Ostrentner einen neuen Fernseher geholt. Das fand ich gut, weil das eben Nichtszene-Leute waren, die da die Elektroläden aufgemacht haben. Das war normale Bevölkerung. Man merkt schon, ich habe eher Sympathien für die, deshalb kann meine Wahrnehmung auch verzerrt sein. Aber so war es. Also, wie gesagt, es ist Montag, die Bullen haben sich zurückgezogen, in allen Seitenstraßen gibt es größere Barrikaden. Die waren teilweise so groß, dass Räumpanzer darin steckengeblieben sind. Es sind ja auch Räumpanzer abgebrannt, was ich seit damals nie wieder gehört habe – ein Räumpanzer, der ist ja eigentlich so ausgelegt, dass er nicht abbrennt.
Dann war der Montag vorbei und der Dienstag relativ ruhig. Man hatte so den Eindruck, dies sei die Ruhe vor dem Sturm. Es gab jedenfalls politische Bemühungen, um die Sache zu entspannen. Man darf ja nicht vergessen, dass durch die Räumung der Mainzer Straße später der Berliner Senat gekippt ist. SPD und Grüne hatten sich darüber so gestritten, dass Neuwahlen erforderlich wurden. Aber von diesen politischen Bemühungen haben weder ich noch die Leute von der Mainzer Straße wirklich etwas mitbekommen. Ich habe selbstgedruckte Flugis verteilt, weil ich dachte, jetzt könnte man die Bevölkerung mit einbeziehen – Illusionen, gut, das weiß ich heute auch. Das war der Dienstag, es ist nicht viel passiert, und ich bin nicht mehr arbeiten gegangen. Das war hier wichtiger für mich.
Am Mittwoch wurde dann die Straße geräumt. Die Bullen sind relativ früh gekommen. Man hatte am Dienstag schon gehört, dass auf der Autobahn größere Bewegungen von Polizeifahrzeugen aus Westdeutschland zu sehen sind. Doch muss man dazu sagen, dass sich die Kommunikation damals natürlich auf einem anderen Level abspielte. Es gab eben kein Twitter oder Ähnliches, um sofort Informationen zu erhalten, das lief eher über das Hörensagen. Irgendjemand hatte etwas gesehen, aber keiner wusste, ob das auch stimmte. Aber es war schon klar, dass sich die Staatsmacht das nicht gefallen lassen würde und es eine zu große Schmach wäre, sich in die Flucht schlagen zu lassen. Es gingen wilde Gerüchte um, die würden die Bundeswehr einsetzen oder was auch immer man da gehört hatte.
Naja, am Mittwochmorgen sind sie dann gekommen. Relativ früh, um 5.00 Uhr oder 6.00 Uhr. Ich konnte noch in die Mainzer Straße reingehen, gemeinsam mit anderen Leuten aus dem Haus, in dem ich damals gewohnt habe. Allerdings sind sehr, sehr wenige Leute in die Straße gekommen. Ich weiß nicht genau, wie viele festgenommen wurden, aber es wurden ja fast alle festgenommen, die sich in der Straße befanden –vielleicht so um die 300 waren es, vielleicht auch 400, aber jedenfalls kein Vergleich zu dem Montag. Die Bullen hatten erst ein bisschen Mühe, in die Straße einzudringen, weil sie von den Dächern so massiv beworfen wurden. Erst nachdem das SEK die Dächer geräumt hatte – eigentlich war das auch der einzige effektive Widerstand an dem Mittwochmorgen, Dinge von den Dächern zu werfen –, konnten sie in die Häuser rein. Vorher war das nicht möglich, und sie haben das auch nicht versucht. Sie haben sich zuerst um die Dächer gekümmert, und als die frei waren, sind sie vorgerückt. Wir sind in die Häuser geflüchtet. Teilweise sind Leute, die mit mir damals zusammen in dem Haus gewohnt haben, auch entkommen. Sie wurden von „normalen“ Anwohnern in ihren Wohnungen versteckt. Dadurch konnten sie flüchten und wurden nicht verhaftet.
Jedenfalls saß ich in einem Haus. Die Mainzer Straße hat ja zwei Straßenseiten. Eine war komplett besetzt, und auf der anderen Seite waren die Hinterhäuser besetzt. Das war nicht so offensichtlich. Ich saß in einem Hinterhaus. Wir waren vielleicht 15 bis 20 Leute in dem Haus, und wir hatten die Hoffnung, dass sie uns vielleicht vergessen oder was weiß ich. Nachdem wir aber das SEK auf den Dächern gesehen haben, dachten wir uns, na gut, dann werden sie uns wohl nicht vergessen. Und irgendwann haben sie die Tür aufgebrochen und uns eben rausgeholt. Die sind relativ fair mit uns umgegangen, außer dass sie uns verhaftet haben. Sie haben uns nicht misshandelt oder zusammengeschlagen. Was man von anderen Festnahmen gehört hat, ist bei uns nicht passiert. Sie haben uns erkennungsdienstlich behandelt und dann zur Wache nach Ruhleben gefahren. Ich weiß nicht, ob wir alle dorthin gekommen sind, aber zumindest einige. Wir saßen dort in einer Sammelzelle, und irgendwann kam man da halt wieder raus. Ich habe eine Anzeige wegen Landfriedensbruch bekommen, aber das war nur pro forma – die wurde dann auch wieder eingestellt, da man mir ja nichts Konkretes nachweisen konnte. Das war der Schnelldurchlauf.
Welche Konsequenzen haben sich für dich ergeben? Politisch, privat, außer, dass du erst mal ein Ermittlungsverfahren anhängig hattest?
Naja, das Ermittlungsverfahren wurde relativ schnell wieder eingestellt, wie gesagt. Ich weiß nicht, ob ich aus dieser Räumung speziell irgendwelche Konsequenzen gezogen habe. Das war ja eine ganze Reihe von Ereignissen, die in dieser Zeit stattfanden. Also in dieser Zeit Anfang der 90er. Und es war jetzt nicht so, dass ich sagen würde: Das war das prägende Ereignis, die Räumung der Mainzer Straße. Ich habe ja auch am Anfang schon einmal gesagt, dass die Straße zu der Zeit politisch schon tot war, außer dass es vielleicht ein kultureller Fixpunkt war. Aber politisch ging von der Straße nicht mehr so viel aus. Insofern war die Auseinandersetzung jetzt auch nicht unbedingt das Schlechteste, was passieren konnte. Ich habe noch viele Jahre mit Leuten, die in der Mainzer Straße gewohnt hatten, in einer WG zusammengelebt. Die Kontakte sind geblieben, daher war es jetzt für mich nicht der große Verlust, dass die Mainzer Straße weg war. Ja, es war zwar schade, klar. Ich bin gerne da abends hingegangen, aber es war nicht so, dass es ein dramatischer Verlust war. Die Mainzer Straße war nach der Räumung dann mindestens ein halbes Jahr, eher noch länger, komplett abgesperrt, sodass man gar nicht mehr hingehen konnte, wenn man nicht dort gewohnt hat. Es standen Gitterwagen davor, und man kam überhaupt nicht durch.
Welche privaten Folgen hatte das noch für dich? Du hast ja gesagt, dass du auch die Arbeit geschwänzt hast, um da nichts zu verpassen.
Ja, also mein Arbeitgeber hat mich dann ein paar Tage später entlassen. Oder vielleicht sogar unmittelbar nachdem ich das nächste Mal auf Arbeit gekommen bin. Es war ja ein Bild von mir in der Zeitung gewesen. Das haben die auch gesehen, da konnte ich schlecht erzählen, dass ich krank war. Aber na gut, einen Arbeitsplatz hat man ja wieder neu gefunden. Ich war jetzt auch nicht am Boden zerstört, weil ich meinen Arbeitsplatz verloren hatte. Ich hatte auch einen Eintrag in dieser Akte – ich weiß nicht, wie die heißt, Linksextremistenakte oder so.
Es tut mir ein bisschen Leid, dass ich jetzt nicht sagen kann, dass nach der Mainzer Straße alles anders war für mich. Ich hatte zu diesem Punkt mit Hausbesetzern eigentlich schon abgeschlossen. Kurze Zeit später bin ich aus dem besetzten Haus ausgezogen, weil das einfach nicht mein Ding war. Ich werde auch heute, wo ich ja auch älter bin, immer wieder mit Hausbesetzern in Verbindung gebracht – ich habe in meinem ganzen Leben wahrscheinlich nicht mal ein Jahr in besetzten Häusern gelebt. Ich bin eigentlich kein Hausbesetzer. Ich habe da mal gewohnt, weil ich das cool fand, es die Zeit war und auch irgendwie dazu gepasst hat. Es gibt sicherlich Dinge in meinem Leben, die mich mehr geprägt haben als diese Mainzer-Straßen-Räumung. Und man darf das nicht aus dem Kontext reißen. In dieser Zeit ist in einem sehr kurzen Zeitraum sehr viel passiert – unter anderem eben auch die Räumung.
Jetzt sind fast genau 25 Jahre seitdem vergangen. Wie blickst du auf dich und deine Erlebnisse in dieser Zeit zurück? Findest du es eher lustig, tragisch oder vielleicht sogar peinlich?
Also peinlich finde ich es auf keinen Fall. Ich erzähle nicht gerne darüber. Letztlich ist es mir sogar ein bisschen unangenehm. Also jetzt reden wir ja schon eine Weile, aber als ich gefragt wurde, war mir das schon ein bisschen unangenehm. Das ist so ein bisschen wie Opa erzählt vom Krieg. Und man merkt ja auch, wie alt man geworden ist – das ist ja schon 25 Jahre her. Aber ich bin jetzt nicht peinlich berührt. Da gibt es andere Dinge in meinem Leben. Zum Beispiel hatte ich ja am Anfang erzählt, dass ich eher aus der Öko- und Umweltbewegung komme, das ist mir eher ein bisschen peinlich. Oder wenn man jetzt sagen würde, da kommt der Hausbesetzer. Aber die Räumung der Mainzer Straße, das ist mir überhaupt nicht peinlich. Ich finde, das war eher eine gute Erfahrung. Eben aus der Erfahrung heraus, der Staatsmacht auch mal Paroli geboten zu haben. Das ist eine gute Sache. Wie gesagt, ich erzähle das nicht jedem. Ich bin ja auch relativ normal geworden – wenn ich es nicht immer schon war. Aber die Erfahrung würde ich jetzt nicht missen wollen.
Und lustig finde ich es auch nicht. Weil da tatsächlich gefährliche Situationen waren. Es gab ja auch schwere Verletzungen. Ein Kumpel hat zum Beispiel von hinten einen Stein abgekriegt – das war wahrscheinlich die häufigste Verletzung, dass man von hinten beworfen wurde, wenn man vorne war. Oder es gab auch Schussverletzungen. Lustig ist das auf keinen Fall. Ich habe da am Mittwoch richtig Angst gehabt. Vieles habe ich aber auch vergessen, weil es schon so lange her ist. Ich merke ja auch an dem Gespräch, wie viele Randepisoden mir wieder einfallen. Wenn ich jetzt länger darüber nachdenken würde, würde mir wahrscheinlich noch mehr einfallen. Aber es besteht natürlich die Gefahr, dass man das so ein bisschen verzerrt. Also dass man Dinge auch mit dem Abstand der Zeit anders erzählt. Die Gefahr besteht natürlich. In den 25 Jahren ist ja auch viel passiert, und man hat sich weiterentwickelt. Und dabei sind vielleicht auch Dinge wichtig geworden, die damals noch nicht so wichtig waren. Das kann schon sein. Und vieles habe ich auch vergessen, weil ich nicht jeden Tag darüber nachdenke.
Vielen Dank, Mike, dass du dir die Zeit nehmen konntest und wir so ein ausführliches Gespräch geführt haben. Auf Wiedersehen.
* Der Name wurde auf Wunsch des Interviewten geändert. Obwohl 25 Jahre seit den Ereignissen vergangen sind, machte Herr Czablewski die Wahrung seiner Anonymität zur Bedingung für die Veröffentlichung des Gesprächs.
Florian Henz, April 2016
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