Kunst und künstlerische Rezeption zur Besetzung

Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte sind seit den Ereignissen um die Besetzung und Räumung in der Mainzer Straße inzwischen vergangen. In dieser Zeit sind die Erinnerungen an den „Kurzen Sommer der Anarchie“ und den „Heißen Herbst“ des Jahres 1990 nicht nur im Gedächtnis vieler ZeitzeugInnen präsent geblieben.

Das Thema stand seither auch im Blickfeld und Interesse unterschiedlicher gesellschaftspolitischer, historischer, medialer und auch künstlerischer Darstellungen und Dokumentationen. Letztere sollen in diesem Artikel näher beleuchtet werden, da sie der Geschichte und den Besetzern der Mainzer Straße ganz eigene Andenken gesetzt haben. Doch auch auf die eigene Kunst und Kreativität der Besetzer und Besetzerinnen soll hier eingegangen werden, um eine weitere Facette vom Leben in der Mainzer Straße 1990 zu zeigen.

Improvisation und Kleinkunst der Besetzer

Screenshot aus dem Film „The Battle of Tuntenhaus” (Juliet Bashore) CC BY-NC-SA 3.0

Screenshot aus dem Film „The Battle of Tuntenhaus” (Juliet Bashore) CC BY-NC-SA 3.0

Das Ausleben kreativer und künstlerischer Ideen hat das Leben in den besetzten Häusern der Mainzer Straße von Anfang an mitgestaltet, was sich gerade auch auf das Straßenbild im Sommer und Herbst 1990 übertragen hat. Die zuvor leerstehenden und teilweise verfallenen Wohnungen waren überwiegend sanierungsbedürftig und mussten mit unterschiedlichem Geschick und Aufwand erst wieder betret- und bewohnbar gemacht werden. Dabei bot sich aber auch ein großer Freiraum zur eigenen Gestaltung der Wohnungen wie auch des übrigen Straßenbildes für die Besetzerinnen und Besetzer. Wohl auch aus einer Mischung aus Wunsch, Talent und Notwendigkeit zur Improvisation entstanden so kleinere und größere Projekte, die 1990 das Straßenbild kurzzeitig prägten. Dies beschränkte sich nicht auf einzelne farbenfrohe Innenräume und Häuserfassaden.

Kleinere Kneipen und Cafés in der Straße und eine Wochenend-Disco, „Terminator X“ im Haus Nummer 2, wurden in leeren Ladenlokalen eingerichtet oder vormalige Wohnräume zu diesen Zwecken mit den zur Verfügung stehenden Mitteln umfunktioniert. Eine ebenso von den Besetzern eingerichtete und ausgestaltete „Volxküche“ befand sich zeitweise im Haus Nummer 22 und schien grundsätzlich auch anderen Bewohnern der Stadt offen zu stehen.

Allen voran aber das Tuntenhaus dürfte mit seiner extravaganten Gestaltung, einer eigenen Bar und vor allem den Showeinlagen, Gesangs- und Tanzwettbewerben das schrille Glanzstück von künstlerischer Improvisation und kreativer Lebensfreude in der Mainzer Straße gewesen sein. Wer das heutige Tuntenhaus im Ortsteil Prenzlauer Berg und einige der Hausfassaden der verbleibenden Wohnkollektive in Berlin betrachtet, mag vielleicht einen vergleichbaren Eindruck bekommen. Seit der Räumung und spätestens mit der Renovierung ihrer Häuser lässt sich dieses Straßenbild der Mainzer Straße von 1990 jedoch nur noch erahnen.

Künstlerische Rezeption von Besetzung und Räumung

Die dramatischen Ereignisse um die Räumung wie auch der Protest erfuhren auch außerhalb Friedrichshains und Berlins öffentliche Beachtung, die mitunter bis in die Gegenwart nachwirkt. Somit sind auch das künstlerische Echo und Interesse an der Mainzer Straße erklärbar, die sich seit der Räumung in unterschiedlichen Kunstrichtungen geäußert haben. Musikstücke und Lieder zählen wohl zu den beliebtesten und wirksamsten Kunstformen, um auf empfundene Missstände aufmerksam zu machen oder Widerspruch auszudrücken. Es verwundert daher kaum, dass einzelne Protestlieder und musikalische Kommentare zu Räumung, Polizeieinsatz und Straßenschlacht schon früh seit den Ereignissen im November 1990 entstanden sind. Neben eher lokal bekannten Künstlern widmete auch die Band Dritte Wahl der Mainzer Straße einen Song. Die 1986 in Rostock, also noch zu DDR-Zeiten gegründete Band, kann zu den wichtigsten und einflussreichsten politischen Punkbands der Wende- und Nachwendezeit in Deutschland gezählt werden und tritt auch heutzutage noch auf. 1992 erschien der Song Mainzerstraße auf ihrem Debutalbum Fasching in Bonn als Kommentar der Band zu den Geschehnissen knapp zwei Jahre zuvor. Der von dunklem Bass und verzerrten Gitarrenriffs getragene Songtext aus einzelnen Schlagworten vermittelt dabei die bedrohliche Atmosphäre der Straßenschlacht, die sich nach den gescheiterten Verhandlungsversuchen anbahnte und schließlich mehrere Tage lang wütete.

Einzelne Kunstausstellungen, die sich mit dem Thema Hausbesetzung und/oder vergangener Wohnkultur Berlins befassten, widmeten der Mainzer Straße ebenfalls Beachtung. Als neueres Beispiel sei die Ausstellung „Wir sind hier nicht zum Spaß“ genannt, die im Sommer 2013 im „Kunstraum Kreuzberg/Bethanien“ von Paul Paulun und Stéphane Bauer organisiert wurde.

Auf der Ebene des Films wurde sich dem Thema eher dokumentarisch genähert. Hier sind der Beitrag „Sag Niemals nie“ des Kollektivs Mainzer Straße aus dem Jahre 1991, der zweiteilige Film der US-Regisseurin Juliet Bashore, „Battle of Tuntenhaus“, ebenfalls von 1991, sowie die 2010 erschienene Dokumentation „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer wird geräumt“ der Regisseurin Katrin Rothe zu nennen. Insgesamt bleibt abzuwarten, ob und welche Kunstprojekte es zur Mainzer Straße zukünftig noch geben wird, doch das Thema scheint auch dieser Tage weiterhin nicht vergessen zu sein.

„Sag Niemals Nie“ Part 1/10
„Battle of Tuntenhaus“ Part 1 und 2

Rezeption in der heutigen Gegenkultur

Nachdem es im Frühjahr 2016 wieder vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen Autonomen, Anwohnern und der Berliner Polizei im Samariterviertel bzw. Nordkiez von Friedrichshain, also unweit der Mainzer Straße gekommen ist, rücken möglicherweise auch die Ereignisse von 1990 wieder vermehrt in den Blick der Öffentlichkeit. Auf einer Demonstration im Februar 2016, die sich gegen eine Polizeiaktion in der Rigaer Straße und fortschreitende Gentrifizierung in einigen Stadtteilen richtete, wurde der Protestzug einiger tausend Teilnehmer bewusst auch durch die Mainzer Straße gelenkt. Durch Plakate und Protestchöre wurden dabei Vergleiche und Verbindungen zwischen der heutigen und damaligen Situation gezogen. Der Konflikt um die Mainzer Straße scheint auf jeden Fall in der Erinnerung vieler Bewohner Friedrichshains und Berlins präsent geblieben zu sein – auch bei jenen, die 1990 gar nicht selbst mit dabei waren.

Alexander Kolibaba, April 2016

Literaturverzeichnis

A.G. Grauwacke (Hrsg.), Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin u.a. 2003.

Susan Arndt u.a. (Hrsg.), Berlin Mainzer Straße. Wohnen ist wichtiger als das Gesetz, Berlin 1992.

Links

Song Mainzer Straße von Dritte Wahl:
https://www.youtube.com/watch?v=– SkYajsWXs

Website der Band Dritte Wahl:
http://www.dritte-wahl.de/

Film: „Sag Niemals nie“ Teil 1 von 10
https://www.youtube.com/watch?v=VZvbgJthCUA

Film „Battle of Tuntenhaus“ I & II
https://archive.org/details/BattleOfTuntenhausPartsIII

Website zum Film der Regisseurin Katrin Rothe:
http://www.karotoons.de/filme.html