„Ganz Berlin guckte auf diese Straße“ – Ein Anwohner erzählt von den Hausbesetzungen und dem Leben in der Mainzer Straße

Mainzer Straße,1. Juni 1990. Foto: Renate Hildebrandt http://www.renate-hildebrandt.de. Quelle: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mainzer_Stra%C3%9Fe-1-Juni1990.jpg, Lizenz CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en

Mainzer Straße,1. Juni 1990. Foto: Renate Hildebrandt. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz CC BY 3.0

Dr. Thomas Schulmeister lebte Anfang der 1990er Jahre in der Samariterstraße, in Berlin-Friedrichshain. Von dort aus erlebte er die Hausbesetzungen und die Räumung der benachbarten Mainzer Straße. Seit 1996 lebt er selbst in der Mainzer Straße, in einem der ehemals besetzten Häuser. Im Interview erzählt er von seinen Erinnerungen als Anwohner an die Hausbesetzungen und wie sich die Mainzer Straße und der Bezirk Friedrichshain in den letzten 20 Jahren gewandelt haben.

Wann haben Sie die HausbesetzerInnen in der Mainzer Straße erstmals wahrgenommen?

Damals habe ich noch auf der anderen Seite der Frankfurter Allee, in der Samariterstraße gewohnt. Dennoch haben wir die Ereignisse in der Mainzer Straße mitbekommen. Generell hatte 1990 auch erst einmal jeder mit sich selbst zu tun, so unmittelbar nach der Wende. Aus meiner Erinnerung kamen die HausbesetzerInnen im Frühjahr 1990 aus West-Berlin. An den Sommer 1990 kann ich mich noch gut erinnern, da die Mainzer Straße sich optisch von den anderen Straßen in der Umgebung unterschied. Da hingen Plakate und Tücher zwischen den Fenstern und an den Balkonen. Die Türen und Fenster waren zugenagelt und zugemauert. Von den 28 Häusern in der Straße waren etwa die Hälfte baufällig, wodurch es ja zum Zentrum der Besetzer und Besetzerinnen wurde. In dem Haus Nummer 7 in der Mainzer Straße, in dem ich heute wohne, befand sich damals im Erdgeschoss die „Zentrale“ der HausbesetzerInnen. Ich vermute, zwischenzeitlich war etwa jedes zweite Haus besetzt. Im Vergleich zu den anderen Straßen war die Mainzer Straße einfach anders damals. Das war man so eher nicht gewohnt als Ostbürger. In den Nachrichten hörte man damals im Sommer, dass es auch in West-Berlin HausbesetzerInnen gab, die im Konflikt mit dem Senat standen, und dass es schließlich zu Friedensschlüssen kam. Im Juli fiel dann der Beschluss, dass auch Häuserbesetzungen im Osten nicht mehr toleriert werden sollten.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Tage der Räumung im November 1990?

Es war also Montag, der 12. November 1990, und ich musste wie immer zur Arbeit nach Buch und habe früh das Haus verlassen. So habe ich von den Auseinandersetzungen erst abends erfahren. Und zwar, dass in einem Überraschungsangriff der Polizei ein Haus in der Pfarrstraße geräumt wurde. Das ist in Lichtenberg, nicht weit weg von der Mainzer Straße. Das Haus war alleinstehend in der Straße und somit vermutlich einfacher für die Polizei zu räumen. Am Nachmittag des 12. November wurde dann von den HausbesetzerInnen spontan eine Demonstration organisiert, wobei die Frankfurter Allee blockiert wurde. Das ist eine der zentralen Verkehrsstraßen hier, und das haben dann viele Anwohner und Anwohnerinnen mitbekommen. Die Polizei drängte die HausbesetzerInnen jedoch zurück. Es kamen Wasserwerfer, gepanzerte Polizeiautos und Tränengas zum Einsatz. Die HausbesetzerInnenszene war sehr heterogen. Es gab verschiedenste Gruppierungen, die alle untereinander gut vernetzt waren.

In der Nacht zu Dienstag haben wir von unserer Wohnung aus gesehen, dass die Polizei mit einigen hundert Männern und Frauen anrückte. Überall in den Seitenstraßen der Frankfurter Allee parkten die Mannschaftswagen. Dann organisierten sich die HausbesetzerInnen einen Bagger und baggerten vorne und hinten Gräben in die Mainzer Straße. Das war eine Kampfansage. Und die Polizei, die zwar gut vorbereitet war, schien doch beeindruckt zu sein. Sie war aber in der Lage, die Mainzer Straße von der Seite so abzuschirmen, dass man nichts mehr sehen konnte außer Polizisten. Nachts wurde es dann laut. Das Ganze war von hier etwa 300 Meter entfernt. Da gab es lauten Krawall. Auf jeden Fall gelang es der Polizei nicht, die Auseinandersetzungen zu deeskalieren.

Am nächsten Morgen in der Früh haben wir laute Explosionen gehört und Lichtblitze gesehen. Scheinbar wurden Feuerwerkskörper und Blendgranaten verwendet. Niemand hätte sich gewundert, wenn hier Häuser gebrannt hätten. Dann wurde irgendwann Tränengas eingesetzt. Der Wind stand so, dass das Tränengas noch weit in die Nachbarstraßen geweht wurde. Das war schon dramatisch. Und am nächsten Morgen, an dem Dienstag, da ging das Leben in der Umgebung ja normal weiter. Die Kinder gingen zur Schule in der Rigaer Straße. Viele Leute fuhren zur Arbeit. Und alle bekamen natürlich die Auseinandersetzungen mit. Tagsüber flogen dann auch Hubschrauber über dem Viertel herum, die Sondereinsatzkommandos der Polizei abseilten. Schließlich beendete die Polizei die Kämpfe unter ziemlich schweren Zerstörungen. Die Straße war unpassierbar, es gab zerstörte Dächer, kaputte Fenster. Vor allem die Wasserwerfer hatten viel zerstört. Da etwa jedes zweite Haus besetzt war, bekamen auch die Häuser mit normalen Mietern erhebliche Schäden ab. Es sah schlimm aus. Aus den Nachrichten von damals weiß ich noch, dass es wohl so dramatisch war, dass ganz Berlin auf diese Straße guckte. Es gab Live-Berichterstattungen, und es waren PolitikerInnen hier wie Frau Künast.

Was geschah nach der Räumung?

Am Donnerstag kündigte Frau Künast die Koalition mit der SPD auf, und daran zerbrach dann der Senat. Es wurden Neuwahlen ausgeschrieben. Der Senat hat später beschlossen, Geld zur Verfügung zu stellen und die Häuser sanieren zu lassen, was dann auch geschah. So hob sich die Straße mit ihren neuen Fassaden schon von den Nachbarstraßen ab. Die Straße war umgeben von diesem Mythos, dass dort etwas passiert und dort Geschichte geschrieben worden war. In den folgenden Jahren begann die Straße jedoch an Bedeutung zu verlieren. Sie wurde zu einer normalen Wohnstraße wie jede andere auch. Zudem zogen in die neu sanierten Häuser viele neue Mieter und Mieterinnen von außerhalb, die sich untereinander nicht kannten. Das führte zu Anonymität in der Nachbarschaft. Ich selbst bin 1996 eingezogen. Man hatte das Gefühl, die Geschichte der Straße beginnt neu.

Inwiefern nehmen Sie die HausbesetzerInnenbewegung heute noch im Viertel wahr?

Die HausbesetzerInnen sind aus der Mainzer Straße verschwunden. In der Colbestraße ist noch ein besetztes Haus. Und auf der anderen Seite in der Kreutziger Straße sind mehrere Häuser in das Eigentum der HausbesetzerInnen übergegangen, die dort heute ihr eigenes Leben verwirklichen. Für mich stellen sie eine kulturelle Bereicherung des Kiezes dar.

Ansicht Mainzer Straße 7, März 2016. Foto: Charlotte Pinon, Beke Detlefsen

Ansicht Mainzer Straße 7, März 2016. Foto: Charlotte Pinon, Beke Detlefsen, Lizenz: CC BY 3.0

Wie würden Sie die Entwicklung der Mainzer Straße und des Bezirks Friedrichshain in den letzten 20 Jahren bis heute beschreiben? 

Friedrichshain entwickelte sich im Vergleich zum Prenzlauer Berg in den 1990er Jahren noch nicht zu einer wohlhabenderen Gegend. Anfang der 2000er Jahre wurden viele Häuser in Friedrichshain noch einmal saniert, und das Viertel wurde zunehmend angesagter. Es war guter Wohnstandard, aber kein Luxus. Schließlich kamen immer mehr StudentInnen und TouristInnen nach Friedrichshain. Man spürte einen leichten wirtschaftlichen Aufschwung. Es gab immer mehr Startup-Unternehmen, Modeläden und kreative Geschäfte, die sich hier niederließen. Das spürte man auch in der Mainzer Straße. Diese Veränderung vollzieht sich so etwa seit 15 Jahren. Es ist eine neue Anwohnerschaft hierhergezogen, die aus der ganzen Welt kommt. Es wird angereist und abgereist. Man hört oft das Klackern der Rollkoffer auf dem Bürgersteig. Häufig stehen Umzugswagen in der Straße. Die Straße ist immer in Bewegung. Die Entstehung einer festen Nachbarschaft ist dadurch allerdings schwierig. Vor einiger Zeit war ein Flugblatt in meinem Briefkasten von jungen Leuten aus dem Kiez, die eine „Kiez-Gemeinschaft“ gründen wollen. Sie wollen sich um gemeinsame Interessen und Anliegen der BewohnerInnen rund um den Boxhagener Platz kümmern. Das gefällt mir gut. Solche Initiativen tragen zu einer höheren Lebensqualität hier im Kiez bei.

Vielen Dank für das Interview!

Isabel Evels, März 2016