„Mitteilung des Abganges eines Gefangenen oder Verwahrten“ vom 26.7.1943, so steht es auf dem letzten Blatt in der Strafakte von Richard Eduard Otto Miersch. Kein weiterer Kommentar, keine weiteren Anmerkungen. Die nationalsozialistische Bürokratie hatte mit dem 52-Jährigen abgeschlossen und die menschenverachtende Ideologie des Dritten Reiches damit ein weiteres Opfer gefunden. Nicht viel ist von dem am 15. Juli 1891 in Küstrin-Neustadt geborenen Richard Miersch bekannt, doch vergessen ist er nicht. Eine kleine Plakette, ein Stolperstein, vor dem Haus Nummer 23 in der Mainzer Straße erinnert an ihn: „Hier wohnte Richard Miersch, Jg. 1891, ermordet am 26.7.1943 im Gefängnis Tegel“.
Seit 1935 lebte Richard Miersch in Friedrichshain. Er war zur Untermiete bei der Familie Maske einquartiert und bei der Firma Fluggerätebau Filter & Mann als Arbeiter angestellt. Seinen Lohn von ungefähr 40 Reichsmark investierte er unter anderem in feuchtfröhliche Abende in einem Billardsaal in der Kinzingstraße nur ein paar Ecken weiter. Hier traf er ab und zu junge Männer, die er in Einzelfällen auch mit nach Hause nahm. Dieses Verhalten, welches heute gerade in Berlin nicht mehr ungewöhnlich ist, wurde Richard Miersch zum Verhängnis. Bereits 1937 wurde er wegen seiner homosexuellen Kontakte und angeblicher „Verführung Minderjähriger“ zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, die er bis März 1938 absaß.
Vier Jahre später geriet der Billardsaal in den Blickpunkt neuer Ermittlungen. Ein Bekannter von Miersch wurde in der Folge wegen „widernatürlicher Unzucht“ angezeigt und bei der Polizei vernommen. In seiner Aussage erwähnte der junge Mann auch einen gewissen Richard aus der Mainzer Straße: Die Maschinerie der Verfolgung von „Unzuchtsverbrechen“ nach Paragraf 175 setzte sich in Gang. Knapp zwei Wochen später, am 18. August 1942, wurde Richard Miersch erneut verhaftet.
Verschiedene Zeugenaussagen seiner Bekannten bestätigten die Anschuldigungen. Auch Miersch gab in seiner Vernehmung sexuelle Kontakte zu mehreren Männern zu. Am Morgen des 24. August wurde Miersch in die Untersuchungshaftanstalt Zellengefängnis Lehrter Straße eingeliefert. Er sollte danach niemals wieder freien Boden betreten, denn am 5. November 1942 erfolgte das Urteil: zweieinhalb Jahre Haft aufgrund des „Verbrechens“ der „widernatürlichen Unzucht“. Eine Revision vom 9. November blieb erfolglos. Am 18. Januar 1943 wurde Richard Miersch zur Mittagszeit in das Strafgefängnis Tegel verlegt. Dort starb er ein halbes Jahr später am 26. Juli. Die Todesursache ist auf der „Mitteilung des Abganges eines Gefangenen oder Verwahrten“ nicht mehr zu entziffern.
Wie viele andere wurde das Schicksal von Richard Miersch lange vergessen. Erst Jahre später sollte sein Gedenken endlich Gehör finden. Das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk) spendete den Stolperstein, der im Sommer 2002 in der Mainzer Straße verlegt wurde.
Die sexuelle Orientierung konnte im nationalsozialistischen Regime zum Todesurteil werden. Ein Unrecht, dem viele Männer und Frauen zum Opfer fielen: Während der NS-Zeit bezahlten bis zu 500 Personen in Berlin ihre höchst privaten Vorlieben mit dem Tod. Es kam zu mehr als 16.000 Ermittlungsverfahren aufgrund des Verdachts von homosexuellen Handlungen. Die Biografien dieser Menschen sind geprägt von Verfolgung, Leid und Angst. Genau solche Einzelschicksale dürfen nicht vergessen werden. Sie sind ein Teil der Geschichte. Und auch ein Teil der Geschichte der Mainzer Straße.
Beke Detlefsen, Februar 2016
Quellenverzeichnis
Strafakte von Richard Miersch. Landesarchiv Berlin, Bestand A Rep. 358-02, Akten Nr. 123021-123022.
Literaturverzeichnis
Jens Dobler, Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Berlin 2003.
Mitteilungen des whk Januar/Februar 2003 (10.4.2016)
Stolpersteine in Berlin (10.4.2016)