Kennzeichnend für die besetzten Häuser in der Mainzer Straße waren nicht nur die Transparente an den Fassaden, sondern auch die Barrikaden aus Gittern und Matratzen hinter den Fenstern. Diese waren besonders den übrigen Anwohnern und Anwohnerinnen der Straße ein Dorn im Auge, da sie sich von derartigen Maßnahmen zum Teil bedroht fühlten. Die HausbesetzerInnen begründeten das Verbarrikadieren mit dem Hinweis auf die regelmäßigen Angriffe rechtsradikaler Gruppen, die meist in der Nacht oder am frühen Morgen in die Straße eindrangen und die Häuser attackierten. Die Überfälle gehörten zum alltäglichen Leben in der Mainzer Straße und waren Thema zahlreicher Plenumssitzungen, in denen die BewohnerInnen der besetzten Häuser die Abwehr der Attacken und entsprechende Gegenmaßnahmen diskutierten.
Die Angriffe wurden von der am 31. Januar 1990 gegründeten neonazistischen Gruppe und Partei „Nationale Alternative“ (NA) organisiert und koordiniert. Sie war das Zentrum des Rechtsextremismus in Ost-Berlin und agierte aus der Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg. Anhänger der Gruppe besetzten im Februar 1990 mehrere Häuser in der Weitlingstraße und erreichten so, dass dem von der NA betriebenen Verein „Initiative für Wohnraumsanierung“ (WOSAN) am 5. März von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) der DDR ein legales Mietverhältnis für die Weitlingstraße 122 angeboten wurde. Das Haus wurde am 27. April 1990 von einer Spezialeinheit der DDR-Staatssicherheit unter dem Kommando der Volkspolizei gestürmt. Fundsachen waren diverse Waffen und Propagandamaterial. Bei dieser Aktion wurde der gesamte NA-Vorstand festgenommen. Der spätere Aussteiger aus der rechten Szene, Ingo Hasselbach, übernahm fortan das Kommando im Haus und koordinierte alle Aktionen.
Die Überfälle auf die Mainzer Straße wurden meist von kleineren Gruppen durchgeführt, die in der ersten Zeit versuchten, mit Stöcken und Steinen die Scheiben einzuschlagen. Als die Häuser immer stärker verbarrikadiert wurden, begannen die Rechtsextremen mit Leuchtspurmunition und Molotowcocktails die Häuser zu beschießen. Mit Leitern gelang es ihnen gelegentlich, die Häuser zu betreten, BewohnerInnen zu vertreiben und Fahnen und Transparente abzureißen. Die Angriffe beschränkten sich jedoch nicht nur auf die Häuser, auch Passanten und Passantinnen mit ausländischem Aussehen und HausbesetzerInnen, die gerade nicht im Haus waren, wurden von den Gruppen angegriffen.
Am Pfingstwochenende 1990 kam es in der Mainzer Straße zur größten organisierten Attacke auf die besetzten Häuser. Bereits am Freitag ereigneten sich vereinzelte Überfälle, am Samstag jedoch verließen einige Hundert Rechtsradikale die Weitlingstraße und griffen die besetzten Häuser in der Mainzer Straße an. Die Besetzer und Besetzerinnen schlugen sie – ohne Hilfe der Volkspolizei – in die Flucht. Den rechtsradikalen Vorstößen brachten die HausbesetzerInnen ein eingespieltes Defensivsystem entgegen. Sie wehrten sich mit Stahl- und Steingeschossen sowie Molotowcocktails, meist war jedoch die direkte Konfrontation, unterstützt mit Knüppeln und Schlagringen, die Reaktion.
Für den Fall eines Angriffs mit Fahrzeugen standen Hakenkrallen zum Zerstören der Reifen bereit. Die BesetzerInnen der Mainzer Straße hatten auch ein Fahrzeug, die sogenannte Einsatz-Wanne, mit der die BewohnerInnen zur Unterstützung anderer besetzter Häuser eilen konnten. Auch wurden damit abendliche Patrouillen gefahren, um erneute Attacken rechtzeitig erkennen zu können. Da die meisten Überfälle nachts und am frühen Morgen stattfanden, wurden in der Mainzer Straße Nachtwachen, Infoketten und eine Funkzentrale eingerichtet. Die Volkspolizei schlug vor, einen gemeinsamen Funkkanal zu betreiben, um sich über rechtsradikale Aktivitäten auszutauschen. Dies wurde von den HausbesetzerInnen jedoch abgelehnt. Einige städtische Abgeordnete schlugen einen gemeinsamen Dialog mit den Rechtsradikalen vor, doch auch dies wurde mit den Worten „Mit den Faschisten redet man nicht, die verbietet man!“ unterbunden.
Als Reaktion auf die beständigen Überfälle organisierte ein Bündnis aus antifaschistischen und bürgerrechtlichen Organisationen am 23. Juni 1990 eine große Demonstration und ein Straßenfest in Berlin-Lichtenberg. Als der Demonstrationszug in die Nähe des Hauses Nr. 122 in der Weitlingstraße kam, das von der Volkspolizei bereits großflächig abgesperrt worden war, weigerten sich einige Hundert autonome DemonstrantInnen weiterzugehen. Nach nur wenigen Minuten schossen die Demonstranten und Demonstrantinnen Leuchtraketen hinter die Barrikade und warfen Steine und Molotowcocktails auf die Fahrzeuge der Volkspolizei. Die PolizistInnen aus Ost-Berlin waren mit diesem Ausmaß an Gewalt überfordert und klärten die Situation erst nach einigem Zögern. Die Rechtsextremen beobachteten die Lage von den Dächern der umliegenden Häuser und warfen mit Steinen nach den Demonstranten und Demonstrantinnen.
Die gewalttätigen Angriffe der rechtsradikalen Gruppen führten zum Verbarrikadieren der Häuser in der Mainzer Straße, was es wiederum den Polizisten und Polizistinnen bei der Räumung im November so schwer machte, die Wohnungen zu betreten.
Die „Nationale Alternative“ hielt sich trotz der Polizeiaktion im April 1990 und der Inhaftierung einiger Vorstandsmitglieder noch bis zum Ende des Jahres, als sich durch Streitigkeiten um die Organisationsdisziplin die Mitgliederzahl der NA auf 200 Mitglieder reduzierte. Im Dezember 1990 forderte die Kommunale Wohnungsverwaltung die WOSAN auf, die Wohnungen in der Weitlingstraße 122 wegen „nicht bestimmungs- und vertragsmäßiger Nutzung“ zu verlassen. Dem mussten die Rechtsextremen Folge leisten, was zu einer Zersplitterung der Partei führte.
Stefan Finkele, März 2016
Quellenverzeichnis
Burkhard Schröder, Neonazis müssen räumen, in: Die Tageszeitung (26.11.1990).
Claudia Bissinger [u.a.], Neue Nazis mit alter Ideologie: Rechtsradikale in der DDR, Spiegel TV 1990, 17 Min. (eingesehen am 15.01.2016).
Videomaterial der „Nationalen Alternative“, das den Verlauf der Demonstration in der Weitlingstraße am 23. Juni 1990 zeigt (eingesehen am 15.01.2016).
Winfried Bonengel: Er war der Führer von Berlin : Ingo Hasselbach steigt aus, Dokumentation, ORB 1993, 30 Min.
Literaturverzeichnis
A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2004.
Britta Bugiel, Rechtsextremismus Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern von 1982-1998 (Medien & Politik; Bd. 21), Münster 2002.
Norbert Madloch, Rechtsextremismus in Deutschland nach dem Ende des Hitlerfaschismus, in: Klaus Kinner/Rolf Richter (Hrsg.), Rechtsextremismus und Antifaschismus. Historische und aktuelle Dimension, Berlin 2000, S. 57-214.
Susann Arndt u.a. (Hrsg.), Berlin. Mainzer Straße, Berlin 1992.